Chronik

Wie alles begann: Was wirkt von Jahn bis heute?

Friedrich Ludwig Jahn, geboren am 11. August 1778 in Lanz bei Lenzen (Priegnitz), gestorben am 15. Oktober 1852 in Freyburg an der Unstrut, ist auch heute noch allgegenwärtig. In allen Teilen Deutschlands sind Straßen und Plätze nach ihm benannt, auch einige Schulen, es entstanden viele Jahn-Denkmäler.
Dabei ist er auch heute durchaus umstritten, wie zu seinen Lebzeiten: Das nicht so Vorbildliche an ihm blenden wir gern aus. Denn er war impulsiv, heftig, übereilt, redselig, wertete schnell und markig, so dass viele ihn schroff ablehnten. Demgegenüber heben wir lieber hervor, wie willensstark, unbeugsam, begeisterungsfähig, schlagfertig, selbstsicher er war.

Jahn ist der Schöpfer des Turnens und der Erfinder der Turnfeste, er war für ein hohes Ziel politisch aktiv, seine erzieherischen Prinzipien halten heute allen pädagogischen und bildungspolitischen Ansprüchen stand (Ganzheitlichkeit), sein Bemühen um die Reinheit der deutschen Sprache ist geradezu aktuell.

Zum Einen: Erfinder des Turnens und der Turnfeste

Die 1811 auf der Berliner Hasenheide entstandene Turnbewegung ist noch nach 200 Jahren gekennzeichnet durch ihre Vielseitigkeit: Die Hasenheide als eine „Bewegungsbaustelle", mit Schwebebaum, Klettergerüst, Tau, Sprungbahn, Wurfanlage, Laufplatz, Spielplatz, Stabsprunganlage. Das „Turnen“ war: Laufen, Springen, Gerätturnen, Klettern, Werfen, Ringen, Hangeln, Schweben; dazu die sechs Turnspiele. Das Ganze also: etwas Abenteuerliches, Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit waren gefordert.
Diese Vielseitigkeit des jahnschen Turnens mit der Betonung der körperlichen Gesamtausbildung ist geblieben bis heute, selbstverständlich anders ausgeprägt als vor 200 Jahren: Gesundheitsvorsorge, Neuentdeckung des Körpers, Fitness, Geborgenheit und Selbsterfüllung in der Gruppe, Selbstverwirklichung stehen im Vordergrund. Die Vielseitigkeit, nicht auf Leistung und Wettkampf ausgerichtet, hat das deutsche Turnen auf fünf Millionen Mitglieder in 20.000 Vereinen anwachsen lassen.

Zum Zweiten: Das politische Wirken

Jahn war in einer Weise politisch aktiv, die in der damaligen Zeit als revolutionär gelten muss: Die von Jahn ausgehende Turnbewegung war von Anfang an Teil der frühen Nationalbewegung und trug sie. Sie war wesentlich darauf ausgerichtet, die Jugend auf den Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft, für die Rettung Preußens vor dem Untergang und die Einigung Deutschlands (unter preußischer Führung) vorzubereiten: nichts Geringeres als die erste politische Jugendbewegung der europäischen Geschichte. Er war Wegbereiter der Entstehung von Schwarz-Rot-Gold und regte das Wartburg-Fest von 1817 an. Da die auf Freiheit und Einheit zielenden Bestrebungen vom metternichschen Überwachungsstaat nicht geduldet wurden, kam es zu den Karlsbader Beschlüssen, zu Verboten, Verfolgungen, Verhaftungen, Verurteilungen, zur „Turnsperre“ (1819 bis 1842). Die Ideen aber lebten weiter und mündeten ein in die Bestrebungen des Vormärz und in die bürgerliche Revolution von 1848.

Zum Dritten: Das pädagogische Programm

Für die turnerische Haltung prägte Jahn die Formel: Ritterlichkeit, Selbstvertrauen, Ausdauer, Gesundheitspflege und das Weiterlehren dessen, was Turnen ist. Dazu gehörten auch die einheitliche Leinen-Gleichtracht auf der Hasenheide, das Turner-„Du": Öffentlich gezeigte Eigenheiten des Turnens, die selbstverständlich als revolutionär eingestuft wurden. Jahn strebte ein einfaches, naturverbundenes Leben an, Solidarität, demokratische Selbstbestimmung, einen neuen jugendlichen Lebensstil und vor allem Brüderlichkeit.

Zum Vierten: Verdienste um die deutsche Sprache

Konsequent ist Jahns Eintreten für die Reinheit der deutschen Sprache: Ihm ging es zunächst darum, das weitere Übergreifen des Französischen in Zeiten der Besetzung einzudämmen, er kämpfte für die Vermeidung fremder Wörter, er wollte nicht, dass man der „Neusucht“ frönt. Mit dem Blick auf heute wird klar, dass sich Sprache immer wandelt, dass das Problem der Überfremdung uralt ist und dass wir im Zeitalter der Globalisierung unsere Sprache nicht abkapseln können. Wohl aber kann die Folgerung sein: sorgsamer mit der deutschen Sprache umgehen und abwägen, wie viel an Neuem ihr zugemutet werden kann. Darüber hinaus war Jahn sprachschöpferisch tätig: Die neuen Zusammensetzungen mit „turnen“ wie Turnkunst, Turnsprache, Turner, turnerisch, Turngeschichte, Turnplatz, Vorturner, Turngemeinde, Turnwart, Turnrat, Turntag gehen auf ihn zurück.

Ausblick: Aufgabe Zukunftsorientierung

Blicken wir heute zurück auf Jahn, dann wird deutlich, dass er Orientierung auch für die Jetztzeit anbietet, dass er Leitbilder und Verhaltensnormen vorgibt, die als zukunftsorientiert gelten können. Insofern verfolgt die Turn- und Sportbewegung Traditionen (im Sinne von bleibenden Werten und nach wie vor gültigen Grunderfahrungen), die auf Jahn zurückzuführen sind. Dies ist wichtig für die eigene Selbstvergewisserung, und es hilft, die Zukunft der Turnbewegung zu sichern.

Konkret bedeutet das im Jahr 2018 oder 2022: Die Verfasstheit der Vereine und ihre Entwicklung in die Zukunft haben hohen Stellenwert bei der Tätigkeit der Verbände. Denn Verein und Verband stehen vor einer doppelten Herausforderung:

Sie müssen und sollen erstens ihr turnerisches „Profil“ wahren und mit entschlossener Zielsetzung ihre gesellschaftspolitische Aufgabe wahrnehmen: den Stellenwert des Vereins in der Kommune zu sichern, Kontakte zu anderen Gruppierungen zu pflegen und mit den politischen Entscheidungsträgern gut vernetzt zu sein.
Sie müssen und sollen zweitens die gesellschaftlichen Wandlungen erkennen und auf sie angemessen reagieren: Im Fachlichen geht es darum, die Angebotsstruktur ständig zu überprüfen, Neues („Trends“) aufzugreifen (Innovationsbereitschaft), angesichts der allgemeinen Tendenzen (vor allem im Freizeit- und Gesundheitssport) das richtige „Profil“ zu finden, vielleicht sogar die Jugend stärker an den Verein zu binden durch Angebote im Erlebnis- und Abenteuersport. Und insgesamt: zukunftsorientiert zu wirken.

Dabei müssen die Vereine durch die Verbände unterstützt werden. Jürgen Palm hat das einmal in der Formel gebündelt: „informieren und motivieren“. Dazu werden Aus- und Fortbildungsprogramme angeboten wie „Verein in Form“ oder „Starker Sport. Starker Verein“. Ziel: Unterstützung der Organisationsentwicklung der Vereine, „Kompetenz-Management“, Verfolgen der angemessenen Strategie, Bindung und Qualifizierung der Mitarbeiter/innen, „Zukunftswerkstatt Vereinsführung“. Kurzum: Vereinsberatung mit dem Ziel der Zukunftsfähigkeit.
Mit den erwähnten „gesellschaftliche Wandlungen“ sind im Wesentlichen vier Entwicklungen gemeint, die für die Vereine bedeutsam sind:

  • Der Bevölkerungsrückgang, die Zunahme der Älteren (demografische Entwicklung)
  • Die Veränderungen im Arbeitsprozess, Beanspruchungen der Einzelnen am Arbeitsplatz, Notwendigkeit ständiger Flexibilität und Mobilität (Digitalisierung),
    zunehmende Bedeutung der Bildung
  • Die wachsende Vereinzelung und Ich-Orientierung (Individualisierung, bei vielen die Frage: „Was soll ich in einem Verein, wenn es das Sportstudio gibt?“)
  • Die Veränderungen im Umfeld des Vereins, die den Verein durchaus zu einem wichtigen „Standortfaktor“ für die Gemeinde werden lassen
  • 1843

    Eröffnung des ersten Turnplatzes in Kassel „vor dem Holländischen Tor“

  • 1848

    Gründung der Casseler Turngemeinde und der TSG Hofgeismar

  • 1851

    Verbot aller Turnvereine in Kurhessen (bis 1856)

  • 1856

    Verbindlicher Turnunterricht an Bürgerschulen

  • 1860

    Erstes Deutsches Turnfest in Coburg

  • 1861

    Deutscher Turntag in Berlin: Einteilung Deutschlands in 15 Turnkreise; Nordhessen gehört zum 7. Turnkreis Oberweser, dieser hat sechs Turngaue mit 40 Vereinen und 4.000 Mitgliedern

  • 1875

    Gründung des Turngaus Nordhessen-Waldeck

  • 1882

    Erstes Gauturnfest des Turngaus Nordhessen-Waldeck in Grebenstein

  • 1896

    Gründung des 50. Turnvereins im Turngau: die TSG Wellerode

  • 1921

    17. Deutscher Turntag in der Kasseler Stadthalle

  • 1931

    Der Turngau feiert in Wilhelmshöhe „Unter den Eichen“ sein 15. Bergturnfest

  • 1932

    Dem Turngau Nordhessen gehören 72 Vereine mit 7.500 Mitgliedern an

  • 1933

    Auflösung des Turngaus und im Zuge der „Gleichschaltung“ Zuordnung zum Reichsbund für Leibesübungen

  • 1946

    Gründung von vier Turnkreisen auf dem Gebiet des ehemaligen Turngaus

  • 1950

    Erstes Hessisches Landesturnfest in Kassel

  • 1952

    Wiedergründung des Turngaus Nordhessen

  • 1953

    Erstes Gauturnfest nach dem Krieg in Hofgeismar

  • 1959

    Mit dem DSB-Programm „Zweiter Weg“ und mit dem Coburger Programm „Turnen für Jedermann“ (1960) werden die Vereinsangebote immer vielseitiger; starker Mitgliederzuwachs durch den Freizeit- und Gesundheitssport

  • 1965

    Erstes Bergturnfest auf dem Sensenstein

  • 1968

    Im Turnen gibt es erstmals mehr weibliche als männliche Mitglieder

  • 1969

    Der Orientierungslauf kommt zum DTB, Nordhessen wird eine OL-Hochburg

  • 1977

    Erstmals erscheint das Ausschreibungsheft des Turngaus

  • 1990

    Nach der Wiedervereinigung kommt es zu engeren Kontakte mit dem Turngau Nordthüringen und Turnvereinen in Jena und Cottbus

  • 1994

    An der Turnschau „150 Jahre Turnen in Nordhessen“ sind 300 Aktive beteiligt

  • 1996

    Einrichtung des Turnleistungszentrums auf dem Sensenstein

  • 2018

    Dem Turngau Nordhessen gehören 135 Vereine mit 33.000 Mitgliedern an, Tendenz: ansteigend

  • 2019

    50. Bergturnfest auf dem Sensenstein